Heilkundeberechtigung für die Pflege - Interessant - aber ich habe keine Zeit! Kollegiale multiprofessionelle Personalpools - innerärztliche Antwort auf Heilkundeübertragung des Gesetzgebers an Heilberufe

11. Juni 2021


Liebe Leser,  

 

der Verfasser bot mit seinen Kollegen vor kurzem den ärztlichen Beziehern des Anwaltsnewsletters ein Online-Seminar an, in dessen Mittelpunkt das KBV Konzept 2025 vom 3.5.2021 stand.

Im Mittelpunkt die Entscheidung des Gesetzgebers im Modellversuch Heilhilfsberufe, die unmittelbare Ausübung von Heilkunde neben der Ärzteschaft zu gestatten.

Erstaunter Kommentar der Anwesenden Ärzte. „Ich hatte weder Zeit bisher solche Veränderungen wahrzunehmen, noch glaube ich Zeit zu haben durch Corona etc. auf Veränderungen zu reagieren“.

Das sind die gleichen Antworten, die wir im Moment bei Geschäftsschließungen von Händlern in der Innenstadt hören, sowie bei Bankfilialen die von Volks- und Raiffeisenbanken, Großbanken aufgelöst werden müssen.

Zentrale Botschaft des KV-Systems

Wir müssen innerhalb der Ärzteschaft den neuen Heilkundeermächtigungen an die Pflege durch Pflichtmodellprojekten der Krankenkassen in jedem Bundesland für die Dauer von 4 Jahren etwas entgegen setzen, das besser funktioniert als die Heilkundeermächtigung beispielsweise an die Pflegefachkräfte. Das heißt, innerhalb der Ärzteschaft benötigen wir kollegiale Antworten, die der Politik zeigen, dass die Ärzteschaft genauso durch die Einbeziehung von Pflegekräften, Arztassistenten, Physiotherapeuten insbesondere chronisch kranken Menschen im ländlichen und sozialschwachen Bereich tangieren kann, umfassend versorgt zu sein. Die Gesundheitspolitik sucht Lösungsansätze, wie innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre über 10.000 nicht besetzte Hausarztstellen durch neue Versorgungsmodelle kompensiert werden können. Dies kann die Ärzteschaft in eigener Verantwortung durch Delegation leisten oder die Heilhilfsberufe durch eine direkte Heilkundebefähigung und Direktabrechnung mit den Krankenkassen (Substitution).

Je weniger Hausärzte – desto voller die Arztpraxen der Zukunft?

98% der Hausarztpraxen ignorieren zurzeit in welchem Maße die ambulante Haus- und Fachärzteschaft durch die Gesetzgebung ihren bisherigen Einfluss als führender Berufsstand für Heilkunde verliert. Durch die Fernbehandlungsgestattung hat die Hausärzteschaft das Monopol verloren bei jedem Krankheitsfall/AU-Bedarf vor Ort erster Ansprechpartner des Patienten zu sein. Die Erfahrung mit Fernbehandlungskonzepten in der Schweiz und im Bereich der deutschen Apotheken zeigt, dass man jährlich mit einem Fallzahlverlust von 3-5% durch die neuen Onlinestrukturen rechnen muss. Das sind die Konzepte des Unternehmens Teleclinic, des Burda-Verlages mit Netdoktor/Jameda/Patientus. Hinzu kommen die telemedizinischen Angebote von Partnerpraxen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung.

All dies gefährdet bei bestimmten Regionen und Standorten die Stabilität der bisherigen, als bisher unangreifbar geltenden Nachfragestrukturen.

5% Verlust von Erstkontakten = 25% Fallzahlverlust in 5 Jahren.

Bei 50% Kosten sind 25% Fallzahlverlust 50% Gewinnverlust. Dies innerhalb von 5 Jahren. Dennoch sind schleichende Erosionsprozesse am Anfang nicht spürbar. Insbesondere, wenn wie in der Corona-Krise zunächst bei solchen Patientenverlusten der Staat einspringt. Ob aber die neuen Gewohnheiten stärkerer digitaler Nutzung dennoch sich verfestigen, ist anzunehmen. Dies zeigen die Beispiele steigender Nachfrage auch im Bereich des Wohnortes nahen Lebensmittelbereichs, der scheinbar auch nicht von den Onlinestrukturen am Anfang berührt wurde.

Insoweit nahmen generell Modehändler, Buchgeschäfte und Banken die Verlagerung von Warenströmen und Dienstleistungen in den digitalen Bereich nicht ernst. Nach der Corona-Krise zeigt sich aber das Ergebnis des Auszehrungsprozesses. Es ist das Schließen von Handelsgeschäften in den Innenstädten und der massive Abbau von Bankfilialen.

Das medizinisch-hausärztliche Kettenpraxis-Start-up AVI-Medical hat gerade von Investoren 28 Mill. EURO für ihr digitalbasiertes Kettenversorgungskonzept erhalten.

Gegenmodell der KV: Lokale hausärztliche Versorgungsgarantie durch regionale, kollegiale Personalpools für Hausbesuchs- und Heimversorgung

Die KBV sagt in ihrem Zukunftspapier verkürzt: Das KV-System hat aus Eigeninteresse zum Erhalt des bisherigen Besitzstandes die Themen Delegation und Digitalisierung so unattraktiv für die Ärzte gemacht, dass sie die juristisch jetzt schon möglichen Delegations- und Digitalisierungsschritte nicht umgesetzt worden sind. Man hat also versucht dem gesetzgeberischen Druck durch eine indirekte systematische Verweigerungshaltung einen Riegel vorzuschieben. Die Folge ist, dass die Gesundheitspolitik der Vertragsärzteschaft nicht mehr zutraut, die Folgen des Hausarztmangels, die schon jetzt spürbar im ländlichen und sozialschwachen Raum auftreten, zu bewältigen.

Deshalb kam es zu der Entscheidung, die KBV nicht mehr mit Einfluss zur Gestaltung von E-PA und E-Rezept zu betrauen. Gleichzeitig kam die Entscheidung jetzt, neben den Haus- und Fachärzten der Wohnort nahen Grundversorgung andere Heilhilfsberufe im Modellversuch mit Direktzugang zu den Patienten auszustatten. Damit treten Hebammen neben den Frauenärzten verstärkt auf. Ferner sind in dem großen Rückenschmerzbereich die Physiotherapeuten neben den Hausärzten und Orthopäden weitere Ansprechpartner der Patienten in den Regionen der Modellversuche der Bundesländer. Gleiches gilt für die Pflege im Bereich Hausbesuch und Heimbetreuung.

Da dies ja alles Zukunft ist, bleibt es nicht spürbar, noch verliert der Hausarzt seine Rolle als erster Ansprechpartner auf der Ebene der Wohnort nahen Versorgung.

Welche Berufsgruppe besetzt in Zukunft den Markenkern: „Wohnortnahe Grundversorgung“?

Denkbar sind Apotheker, Pflege, Physiotherapie.

Noch gilt es sich auch klarzumachen, dass ein Teil der Ursache darin liegt, dass die Hausarztmedizin weiblich wurde und man diesen Trend nicht früh genug erkannt hat, dass das zentrale Ergebnis keine Freiberuflichkeitr ist, sondern der Wunsch ca. 21 Stunden pro Woche angestellt mit hoher Flexibilität zu arbeiten. Wenn aber ein Berufsstand auf die unternehmerische Interessenwahrnehmung als Selbstständiger verzichtet und gleichzeitig seine Arbeitskraft von 50 Stunden auf 21 Stunden reduziert, hat dies automatisch gesellschaftspolitische Konsequenzen für die regionale Versorgung der Bevölkerung. Die verständliche Prioritätensetzung einer Ärztin  ihren Beruf unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen für Kinder, zu pflegender Angehörige und der Karrierewünsche des Ehepartners löst ein Versorgungsproblem für die Bevölkerung aus. Dieser Engpass kann  interkollegial von der Ärzteschaft selbst gelöst werden oder  wird ersetzt durch Ermächtigung für Heilkundefunktionen durch andere dem Hausarzt nahe gutausgebildete nichtärztliche  Berufe.

Die Kommunalpolitik sucht regionale Versorgungspaten durch die Ärzteschaft.

Die Kommunalpolitik muss der Bevölkerung Antwort geben, wie die jetzigen und noch weiter entstehenden Engpässe in der Hausarztversorgung bei rund 30.000 Praxisaufgaben bis 2035 gelöst werden sollen. Im Hausarztbereich reicht weder von der Kopfzahl die Ausbildung noch durch die reduzierte Arbeitszeit als Angestellter die zur Verfügung gestellte Versorgungszeit. Aus kollegialen Schutzgründen hat die Ärzteschaft bisher kaum Anreize gesetzt, digital oder delegativ zu arbeiten. Dennoch haben sich im Bereich der Selektivverträge innerhalb Deutschlands eine ausreichende Erfahrungsmenge zur sinnhaften Gestaltung von Selektivverträgen entwickelt, wenn und insoweit die niedergelassenen Ärzte dem Apell der KV folgen, die Regionalversorgung mit multiprofessionellen Teams sicherzustellen.

Die nichtärztliche Konkurrenz drängelt!

Die mit Sicherheit dem Wunsch der Politik folgen sind Apotheken, Physiotherapeuten, Pflegekräfte. Sie sagen „ja“ um die Anerkennung ihres Berufstandes willen und weil sie damit auch weitere Vergütungsanreize erhalten. Die Ärzteschaft ist eher saturiert und sagt „wir möchten zusätzlich weitere erhöhte Finanzanreize bekommen“. Sie, die Ärzteschaft, denkt wahrscheinlich weniger daran, dass es wesentlich rentabler ist, mit durch Delegation gewonnenen freien Zeiten neue Patienten zu versorgen. Ein Erstkontaktpatient mit AU-Bedarf löst in jedem Falle eine Vergütung von 30,00 EUR bis 50,00 EUR aus. Ein Zweit- oder Drittkontakt bei einem Chroniker bringt aller Wahrscheinlichkeit ein betriebswirtschaftliches Minus.

Wenn 10% der Ärzte reagieren – es wäre ein wichtiges Symbol für die Bevölkerung!

Mit den Modellversuchen in der Pflege ist die Entscheidung des Gesetzgebers klar. Wenn die Ärzteschaft die Verantwortung für neue Versorgungsmodelle nicht wünscht und keine Zeit hat, müssen wir die Versorgung mit denjenigen nichtärztlichen Berufsbildern besetzen, die uns ihre Unterstützung, insbesondere im Chroniker Bereich, neben den Ärzten anbieten. Es ist wie im Notfallsektor. Weil es nicht genügend Ärzte gab, entstand das Berufsbild des Notfallsanitäters. Sicherlich nicht so gut wie ein Arzt, aber besser als nichts. Aber dennoch der Beweis, dass in einem solchen Fall nicht nur ein Arzt bei einem Unfall gleichgewichtig helfen kann.

 

KBV-Forderung:

Ärzteschaft muss für den Haus- und Heimbesuchsbereich eine Versorgungsgarantie als Symbol setzen. Die ist die lokale, kollegiale Versorgung mit multiprofessionellen Teams.

 

Unser Vorschlag für freiberufliches interkollegiales Handeln:

Wir folgen dabei den wissenschaftlichen Untersuchungen und Vorschlägen von zwei Gutachten zur Bewältigung des Hausarztmangels im ländlichen Bereich.

Analyse der Gesundheitsversorgung und Erstellung eines Versorgungskonzeptes für den Ostalb-Kreis“ vom April 2020. Auftraggeber ist der Landkreis

http://www.quaestio-fb.de/media/gesundheitsversorgung_im_oak_komplett.pdf

 

„Gesundheitszentren für Deutschland“ vom Mai 21 Robert Bosch Stiftung

Wie ein Neustart in der Primärversorgung gelingen kann

https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2021-05/Studie_Primaerversorgung_Gesundheitszentren-fuer-Deutschland.pdf

 

In jedem Landkreis, jeder kreisfreier Stadt entstehen zwei bis drei Arztgruppen, die als ärztliche Initiative und unter ärztlicher Verantwortung Selektivverträge mit Unterstützung der Kassenärztlichen Vereinigungen den Krankenkassen  eine multiprofessioneller Versorgung garantieren..

 

Planen Sie die lokale Hausbesuchsvorsorge mit gemeinsamen NäPas gemeinsam!

Die Anstellung von NäPa’s, Pflegekräften, Physiotherapeuten entsteht als überörtliche Personalpraxisgemeinschaft auf kollegialer Ebene. Federführend sind Unternehmerpraxen, die wachsen wollen und gegebenenfalls auch Kollegen mit kleineren Praxen, die in absehbarer Zeit aufgeben, so unterstützen. Damit würden auch den Kollegen die Vorzüge von Digitalisierung und Delegation beispielsweise im Hausarztbereich und in der Heimversorgung zugutekommen. Somit können Hausbesuchstouren von NäPa’s für mehrere Praxen gemeinsam geplant werden, wie aber auch Heimbesuche. Bisher war dies innerärztlich weder gewünscht, noch abrechnungstechnisch gestattet. Eine NäPa konnte  nur von einer Praxis angestellt sein.  Diese Haltung  Der Kassenärztlichen Vereinigungen scheint sich zu ändern. Jede künftige Abgeberpraxis kann mitwirken. Wichtige personelle Versorgungsstrukturen mit hoher Qualifikation brauchen nicht allein von jedem vorgehalten werden, sondern sie sind kollegial-kooperativ geplant.

Da in diesem Bereich absehbarer Weise sowohl Fördergelder von KVn, Krankenkassen, Gesundheitsministerien und Kommunen zur Verfügung gestellt werden, wäre es wichtig, hier relativ frühzeitig zu überlegen, ob man selbst und gegebenenfalls andere zum Mitmachen veranlassen könnte.

Werden Sie der regional führende Versorgungsnetzwerker!

Im Prinzip werden die Versorgungspartnerschaften zwischen niedergelassenem Bereich, Landkreisen und Krankenkassen die nächsten 10 Jahre vorstrukturiert. Naturgemäß sind Praxisnetze auch in solche Gedanken eingeschlossen. Sie sind aber nicht Voraussetzung, weil die Initiative eher auf leistungsfähigen Unternehmerpraxen liegen sollte als auf den Arztverbünden mit tradierter kleinteiliger Selbstständigkeitskultur.

Multiprofessionelle Teams nutzen sowohl größeren Unternehmerpraxen als auch kollegialen, kleinteiligen Praxisstrukturen und Abgebern.

Wenn die KVn nun solche Ideen anbieten, sollten von allen unterschiedlichen Hausarztgruppen diese Ideen auch umgesetzt werden. Insbesondere gegebenenfalls auch in Verbindung mit Facharztpraxen, wie Urologen, Orthopäden, spezialisierten Internisten und Augenärzten.

Muster von solchen größeren von Ärzten geführten unterschiedlichen Praxisstrukturen sind:

 

MVZ Birkenallee, Papenburg

https://www.mvz-birkenallee.de/

 

MVZ Dachau

https://www.dachau-med.de/

 

Praxisgruppe ze.ro

https://www.zero-praxen.de/

 

Praxisgruppe Ehepaar Dres. med. Kielstein, Erfurt/Thüringen

https://www.kielstein.de/

 

Mit solchen Modellen kann die Ärzteschaft von ihrer juristisch verantwortenden Heilkunde incl. Heilhilfsberufe aus einer Hand lokal anbieten. Über die Fachärzte erstreckt sich das Angebot gegebenenfalls über Belegarztfunktionen ins Krankenhaus.

Das nichtärztliche Parallelangebot bietet der Bevölkerung eine akademisch ausgerichtete wesentlich engere, auf einzelne Krankheitsbilder ausgerichtete Heilkundelösung an.

Wenn aber die Ärzteschaft jetzt nicht reagiert, hat sie sich selber gegenüber der Gesellschaft überflüssig gemacht.

Wenn also die Ärzteschaft nicht handelt, weicht die Bevölkerung und die Gesundheitspolitik auf die verbleibende zweitbeste Lösung aus und gibt eine erst nach langer Mühe erreichte gesellschaftliche Führungsposition auf.

 

Wir werden Sie über die weiteren Entwicklungen auf dem laufenden halten.

Über e-mail oder Anrufe würde ich mich freuen.

Ihr 

 

Hans-Joachim Schade
Rechtsanwalt und Mediator
Fachanwalt für Medizinrecht
hjs@arztrecht.de


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